Wolf Schneiders Ammenmärchen über Esperanto
Dieser Tage wird viel über Wolf Schneider geschrieben, der am 7. Mai 90 Jahre alt wird und gerade seine Autobiografie veröffentlicht hat. Sein Buch „Deutsch für Profis“ wurde in den achtziger Jahren von vielen mit Begeisterung verschlungen. Gerne hätten auch Esperanto-Sprecher ihre Bewunderung für ihn aufrecht erhalten – er geht so virtuos mit der deutschen Sprache um und hat das auch sehr eingängig dargestellt.
Grandios gescheitert mit Artikel über Esperanto
Inhaltlich ist er allerdings zumindest in einem Fall grandios gescheitert: Im Oktober 1994 hat er in NZZ Folio, dem Monatsheft der Neuen Zürcher Zeitung, einen „Nachruf aufs Esperanto“ veröffentlicht, mit dem er neue Maßstäbe in Sachen des recherchearmen Journalismus gesetzt hat. Zumindest sieben Unwahrheiten über Esperanto hat er da verbreitet – er hat wohl einfach drauflos phantasiert, statt seine undurchdachten Behauptungen zu überprüfen.
Kann man Esperanto für tot erklären?
Man könne die Kunstsprachen wie Esperanto wohl allesamt für tot erklären, hat er da behauptet, obwohl in diesem Jahr 1994 – wie jedes Jahr – über hundert Esperanto-Bücher veröffentlicht wurden und es schon ein paar hundert Esperanto-Muttersprachler gab (heute sind es über tausend). Knapp eine halbe Million Menschen in etwa hundert Ländern weltweit haben auch 1994 regelmäßig Esperanto gesprochen und die chinesische Regierung veröffentlicht seit vielen Jahrzehnten ständig Texte auf Esperanto (mittlerweile erscheinen auf esperanto.china.org.cn sogar tägliche Nachrichten auf Esperanto). Dass die Esperanto-Wikipedia zwanzig Jahre später über 200.000 Artikel enthalten würde, soviel wie die dänische Wikipedia, konnte Schneider 1994 natürlich nicht ahnen – klar wird aber auch an dieser Entwicklung, dass seine Behauptung völlig aus der Luft gegriffen war.
Hat Esperanto Kinderlieder und Verse, Flüche, Witze, Redensarten?
Schneider meinte in seinem Text weiter erklären zu müssen – wohl ohne eine einzige Sekunde auf die Überprüfung verwandt zu haben –, Kunstsprachen wie Esperanto böten „keine Kinderlieder und keine Verse an, keine Flüche, keine Witze, keine Redensarten“. Ihre Wörter, behauptet Schneider im vollen Schwung des Herumfabulierens, seien „eindeutig und folglich einschichtig“.
Das ist alles falsch, seit über hundert Jahren. Sehr wohl wachsen unsere Kinder mit Kinderliedern in Esperanto auf, Verse in Esperanto hat Ludwik Zamenhof schon in seinem ersten Buch 1887 veröffentlicht, und natürlich gibt es Flüche, Witze und Redensarten. Diese werden auch in Büchern gesammelt; wer lesen kann – und dies auch tut – ist klar im Vorteil...
Mehrdeutigkeiten in Esperanto?
Das Wort „sentema“ zeigt die Möglichkeiten des Esperanto, mit Mehrdeutigkeiten zu spielen – es kann als „sent-ema“ (gefühlvoll) verstanden werden oder auch als „sen-tema“ (ohne Thema). Raymond Schwartz hat mit seinen Esperanto-Sprachspielereien schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem Pariser Kabarett das Publikum amüsiert (und mehrere Bücher damit gefüllt). Das Sprichwort „Schuster, bleib bei deinen Leisten“, heißt in Esperanto „Restu, tajloro, che via laboro“ (Bleibe, Schneider, bei deiner Arbeit) – und das wurde auch in einem Esperanto-Artikel über Schneiders Phantasie-Artikel zitiert.
Übersetzen ist manchmal schwerer als man denkt
Offensichtlich um den Anschein zu erwecken, er kenne sich hervorragend mit seinem Thema aus, hat Schneider einen englischen Satz mit Esperanto-Übersetzung vorgestellt. Allerdings landete er auch hier auf der Nase, seine Esperanto-Übersetzung enthält einen Fehler, der auch geblieben ist, als der Artikel später nachgedruckt wurde. Schneider erwähnt dazu einen Unterschied des Esperanto zum Englischen - aus „bona amiko“ im Singular, guter Freund, wird im Plural „bonaj amikoj“, gute Freunde; auch das Adjektiv verändert sich im Plural (und im Akkusativ), anders als im Englischen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die meisten Esperanto-Lerner schon nach spätestens dreißig Lernstunden Esperanto in der Praxis anwenden. Sie fühlen sich sehr wohl damit, dass die Formenlehre des Esperanto auf einem Blatt unterzubringen ist, was man vom Englischen keinesfalls behaupten kann...
"Irrtümer, falsche Informationen, täuschende Vergleiche..."
Eine Anglistin hat über den Artikel geschrieben (in Esperanto), er sei eine „Karikatur des Esperanto“, „die auf Irrtümern, falschen Informationen, täuschenden Vergleichen, Halbwahrheiten und irrtümlichen Beurteilungen wegen fehlender Kenntnisse“ beruhe; es handele sich um „ein bedauerliches Beispiel eines Autors, der seine Vorurteile ausdrückt, ohne sich über das Thema zu informieren“.
Erster Leserbrief 19 Jahre nach Artikel veröffentlicht...
Natürlich gab es Leserbriefe an die Neue Zürcher – kein einziger davon wurde in NZZ Folio veröffentlicht. Erst 19 Jahre später, als das Archiv von NZZ Folio im Internet erschienen war, hat sich die Neue Zürcher Zeitung endlich bequemt, dort auch Leserbriefe zuzulassen.
Journalisten "berichtigen jede von ihnen veröffentlichte Meldung" mit Fehlern...
Der Chefredaktor von NZZ Folio, Dr. Daniel Weber, weigert sich bis heute, eine Berichtigung des Artikels zu veröffentlichen – vielleicht aus persönlicher Verbundenheit mit dem langjährigen Folio-Autor Wolf Schneider. Die Journalistenpflichten des Schweizer Presserats sind allerdings sehr klar: Die Journalisten "berichtigen jede von ihnen veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. “ Dass Leserbriefe ausreichen würden, 19 Jahre später im Internet veröffentlicht, davon steht in den Journalistenpflichten nichts.
Wo bleibt die journalistische Qualität?
Leider geht also die Diffamierung des Esperanto und damit auch der Esperanto-Sprecher auf den Internetseiten der Neuen Zürcher Zeitung munter weiter – der Text wird auch von Suchmaschinen angezeigt. Was das mit journalistischer Qualität zu tun haben soll, von der auf den Seiten der Neuen Zürcher (und auch im Zusammenhang mit Wolf Schneider) so gerne geschrieben wird, bleibt schleierhaft. Persönliche Beziehungen zählen offensichtlich mehr. Sicher spielt auch eine Rolle, dass Wolf Schneider ein Mangel an Wertschätzung der eigenen Person und Leistungen noch nie nachgesagt worden ist...
Ammenmärchen über Esperanto - ein weit verbreitetes Phänomen
Der einzige Trost für die Neue Zürcher Zeitung und Wolf Schneider könnte darin bestehen, dass sie mit ihrer Verbreitung von Unwahrheiten über Esperanto nicht alleine stehen. Die Ammenmärchen über Esperanto halten sich leider gut, und wer die wohlige Wärme der Redaktions- oder Amtsstuben mehr schätzt als die Recherche vor Ort, der plappert oft nach, was er irgendwo gefunden hat oder vom Hörensagen zu wissen glaubt. Da breitet dann ein Englischlehrer in der Huffington Post seine fröhlichen Phantasien zu Esperanto aus, das französische Erziehungsministerium behauptet regelmäßig, Esperanto habe keine Muttersprachler, und ein bayerischer Minister für Unterricht hat mal dem Parlament mitgeteilt, Esperanto biete Asiaten keine Lernerleichterung. (Auch wenn die Wortstämme des Esperanto – wie die des Englischen – für Asiaten neu zu lernen sind, sind doch Grammatik und Wortbildung wesentlich einfacher. Das senkt die Lernzeit auch bei Asiaten auf etwa ein Drittel; während Asiaten für ein vernünftiges Niveau beim Englischen zehn Jahre brauchen, können sie ein entsprechendes Niveau bei Esperanto in etwa drei Jahren erreichen.)
Berichtigt wird höchst selten...
Die Bereitschaft, solche Falschinformationen zu berichtigen, ist in den meisten Fällen nahe null. Lieber wird weiter gelogen, als dass man einen Fehler zugibt. Auch Wolf Schneider hat seinen Artikel unverändert später noch im Verlag der NZZ und bei rororo veröffentlicht – das bringt ja weiteres Geld und Ruhm, zumindest bei Lesern, die mit der Sache nicht vertraut sind.
Die Leser werden falsch informiert
Oft wird die Frage gestellt, warum sich Esperanto nicht durchgesetzt hat oder zumindest weiter verbreitet. Der Artikel von Wolf Schneider und seine weitere Geschichte zeigen einen Teil der Antwort. Wenn selbst eine der international angesehensten Zeitungen und ein früherer langjähriger Leiter der Henri-Nannen-Schule (Hamburger Journalistenschule) sich nicht scheuen, Esperanto gemeinsam zu diffamieren, es fälschlich als eine tote Sprache und als kulturlos darzustellen, dann ist es für die Esperanto-Sprecher und ihre Organisationen sehr schwer dagegen anzugehen. Persönliche Eitelkeiten und Beziehungspflege werden über journalistische Qualität gestellt – die wirklichkeitsgetreue Information der Leser bleibt auf der Strecke. Letztlich werden die Leser über den Tisch gezogen, sie zahlen Geld für Falschinformation.
Wolf Schneider - ein früherer US-Dolmetscher und US-Journalist
Man kann sich die Frage stellen, warum Wolf Schneider unbedingt einen so katastrophalen Artikel gegen Esperanto veröffentlichen wollte. Ein Blick in seine Biographie hilft weiter: Nach dem Krieg hat Schneider erst als Dolmetscher für die US-Armee gearbeitet, dann für eine Zeitung der US-Militärregierung gearbeitet. Er war später Korrespondent der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP sowie Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington. Kein Wunder, dass Schneider aus persönlichen Gründen gegen Esperanto eingestellt ist, das oft als Konkurrenz zum Englischen verstanden wird. In der Praxis ist Esperanto vielmehr eine Ergänzung, einfach eine weitere Sprache mit einem eigenen Anwendungsbereich. Wer Fach-Artikel lesen will, braucht Englisch – mit Esperanto kann man vor allem nette Ferien verleben und leicht weltweit Kontakte knüpfen.
Als Schneider den Artikel schrieb, war er im übrigen 69 Jahre alt. Das ist eher etwas spät, um sich über Sprachenlernen Gedanken zu machen – Sprachen werden in der Regel im Alter zwischen zehn und dreißig Jahren gelernt; die Hälfte der Esperanto-Sprecher hat mit Esperanto vor dem zwanzigsten Geburtstag angefangen.
Faszinierendes Esperanto: Ein paar Stunden Lernen - und Kontakt mit der ganzen Welt ist möglich
So fehlte Schneider das Gefühl dafür, was die Faszination des Esperanto ausmacht: Man lernt ein paar Stunden lang eine neue Sprache und man kann sich sofort mit Menschen auf der ganzen Welt austauschen. In der Facebook-Gruppe „Esperanto“ gibt es alle naselang Beiträge von jungen Leuten, die einen Tag vorher mit Esperanto angefangen haben und nun auf Esperanto schreiben, dass sie weltweit Kontakte suchen. Hierfür ist und bleibt Esperanto unschlagbar – egal, wie sehr irgendjemand in seinem Elfenbeintürmchen herumphantasiert.
Reinhard Abner
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