EU-Zukunftskonferenz: Eine der populärsten Ideen nutzt Esperanto

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Veröffentlichungsdatum: 
2022-02-18
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Häufig wird dafür plädiert, Englisch in der EU noch stärker als gemeinsame Sprache zu nutzen. Dieser Artikel stellt vor, welchen Stand die internationale Sprache Esperanto und ihre Sprachgemeinschaft bisher erreicht haben und welche Vorteile Esperanto gegenüber Englisch hat. Weiterhin werden Vorschläge für eine sanfte Förderung des Esperanto gemacht; die Entscheidung, welche Sprache in der Praxis genutzt wird, sollte frei bleiben.

Zunächst 50 Stunden Esperanto lernen, dann erst Englisch

Bei der EU-Zukunftskonferenz (CoFoE) wurden von den Bürgerinnen und Bürgern der EU schon über 12.000 Ideen eingereicht. Die mit den derzeit zweitmeisten Befürwortern ist recht einfach: Erst etwa 50 Stunden Esperanto lernen, dann eine Sprache wie Englisch deutlich schneller lernen („The EU needs improved language learning“, https://futureu.europa.eu/processes/Education/f/36/proposals/23893).

Nicht nur im Bereich „Bildung“, sondern auch zu anderen Themen der Konferenz gibt es vergleichsweise stark unterstützte und kommentierte Ideen mit Bezug zu Esperanto. Wie kann diese internationale Sprache für die EU nützlich sein?

Esperanto - größte Sprachen-Innovation der letzten Jahrhunderte?

Sicher müssen weiterhin die wesentlichen Texte der EU zumindest in allen Amtssprachen der EU-Länder verfügbar sein. Allerdings ist eine gemeinsame Sprache oft sehr hilfreich. Seit langem wird hierfür meist Englisch verwendet; die internationale Sprache Esperanto scheint aus dem Rennen. Doch handelt es sich hierbei vermutlich um die größte Sprachen-Innovation der letzten Jahrhunderte – eine internationale Sprache, die man in etwa einem Viertel der für andere Sprachen nötigen Zeit lernen kann; ihre Literatur, Lieder und Kultur sind in vielen Ländern verwurzelt (anders als beim Englischen) und sie erschließt stetig neue Anwendungsbereiche.

Leider sind die Fakten zu Esperanto wenig bekannt, und viele Menschen haben falsche Vorstellungen von Esperanto-Kultur und Esperanto-Sprachgemeinschaft.

Esperanto heute

Nach Schätzungen haben bisher ein paar Millionen Menschen Esperanto gelernt und einige hunderttausend nutzen die Sprache regelmäßig. Sie leben in etwa 120 Ländern weltweit. Es gibt ein paar tausend Esperanto-Muttersprachlerinnen und -Muttersprachler. Über 300.000 Artikel in Esperanto findet man in der Esperanto-Wikipedia; Google Translate übersetzt Esperanto beeindruckend gut. Bei Duolingo lernen jährlich etwa 800.000 Menschen Esperanto.

Esperanto-PEN-Zentrum seit 1993

Polen hat Esperanto 2014 als Kulturerbe anerkannt, Kroatien 2019. Der Vatikan hat Texte für Messen in Esperanto 1990 genehmigt, das Esperanto-PEN-Zentrum ist seit 1993 Mitglied im internationalen Schriftstellerverband PEN. In Ungarn ist Esperanto in einigen Bereichen gleichberechtigte Sprache, in Österreich unterhält die Nationalbibliothek eine umfangreiche Sammlung zu Esperanto.

Tägliche Nachrichten in Esperanto aus China

Seit 2001 veröffentlicht China Nachrichten in Esperanto an allen Werktagen (http://esperanto.china.org.cn). Schon seit den 1950er Jahren gibt es Bücher und Radiosendungen aus China (https://esperanto.cri.cn). Ein wichtiger Grund für diese starke Förderung des Esperanto dürfte sein: Esperanto ist auch für Chinesen weit schneller zu erlernen als Englisch. Schon in den 1920er Jahren wusste man in China, dass man für Englisch fünf Jahre braucht, für Französisch sieben, und dass für Esperanto eines genügt.

Reichhaltige Esperanto-Literatur

Bis heute glaubt so mancher, dem Esperanto fehle eine Kultur, in der es wurzelt. Das ist verblüffend, da die reichhaltige Esperanto-Literatur ohne die Kulturen der Autoren und ohne die gemeinsame Esperanto-Kultur nicht denkbar wäre (zur Esperanto-Literatur siehe etwa Geoffrey H. Sutton, „Concise Encyclopedia of the Original Literature of Esperanto“, und Clemens J. Setz, „Die Bienen und das Unsichtbare“).

Anscheinend sind unzutreffende Mitteilungen von Sprachwissenschaftlern oft die Quelle für Falschinformationen zu Esperanto; diese Äußerungen basieren gewöhnlich auf unzureichender Recherche.

Englisch in Süd- und Osteuropa seltener gesprochen

Man könnte denken, die EU-Welt sei mit Englisch in Ordnung. Leider bedeutet die häufig alleinige Verwendung des Englischen aber eine sprachliche Entmündigung weiter Teile der EU-Bevölkerung, insbesondere in Süd- und Osteuropa (in der Fachliteratur „linguistic disenfranchisement“). In Schweden, Dänemark und den Niederlanden geben 86 – 90 % der Bevölkerung an, dass sie Englisch beherrschen (laut Eurobarometer 386, Sprachen, 2012); demgegenüber haben nur 22 % der Bevölkerung in Spanien, 34 % in Italien, 33 % in Polen und 20 % in Ungarn angegeben, ausreichend Englisch zu sprechen, um sich zu unterhalten (ebenso 25 bis 31 % in Portugal, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien). Das dürfte sich kaum ändern, wie die Erfahrung zeigt: Sogar in Brüssel stagniert der Anteil der Englisch Sprechenden in der Bevölkerung seit zwei Jahrzehnten bei 30 – 35 %. Hintergrund für die Zerrissenheit der EU bezüglich der Englisch-Kenntnisse ist u. a. die sprachliche Entfernung der Muttersprachen vom Englischen. Da Esperanto für alle weit schneller als Englisch zu erlernen ist, dürfte bei einer allgemeinen Unterstützung der Sprache das Esperanto von deutlich mehr Menschen gelernt werden können.

Mehr und bessere Information über Esperanto

Bleibt die Frage, was zu tun wäre. Man könnte mit dem Folgenden anfangen:

  • Zum einen ist eine verstärkte und fundierte Information über Esperanto nötig. Man könnte z. B. ein Programm auf den Weg bringen, dass alle Schülerinnen und Schüler der EU zumindest eine Stunde Unterricht über Esperanto erhalten. Wer sich zu Esperanto äußert, in der Schule, Universität oder in einem anderen Umfeld, sollte sich zuvor mit der einschlägigen Fachliteratur vertraut machen. Eine faktengestützte Information entspricht auch der Grundwerte-Charta der EU, Artikel 22, Achtung der Sprachen und Kulturen.

  • Zum anderen wäre es sinnvoll, Esperanto in der Schule und an der Universität gleichberechtigt mit anderen Fremdsprachen zu behandeln, so wie das in Ungarn schon an vielen Stellen der Fall ist.

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Quellen zu
EU-Zukunftskonferenz:
Eine der populärsten Ideen nutzt Esperanto

Lernzeit für Esperanto
siehe z. B. Vorstellung von drei Schulversuchen in: Wunsch-Rolshoven, Zum Bild des Esperanto aus der Sicht einiger Sprachwissenschaftler, S. 185 - 187
http://www.interlinguistik-gil.de/wb/media/beihefte/JGI2018/JGI2018-Wunsch.pdf

Zahlen und Fakten zu Esperanto
Quellen zumeist in https://de.wikipedia.org/wiki/Esperanto ; gerne mehr.

Esperanto in China
Zitat zur Erlernbarkeit von Englisch, Französisch und Esperanto in
Gregor Benton. Chinese Migrants and Internationalism: Forgotten Histories, 1917–1945, S. 99
https://books.google.de/books?id=FMgEX5x6F34C&pg=PA99&lpg=PA99&dq=English+takes+at+least+five+years+to+learn+and+French+at+least+seven+Esperanto+on+the+other+hand,+could+be+learned+in+a+year&source=bl&ots=PGsD_YVjro&sig=fudFHn9rWnJ4s3ZlpUTxrXgDE1Q&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwi67-vstKzXAhWEKFAKHaxWCQcQ6AEIQzAC#v=onepage&q=English%20takes%20at%20least%20five%20years%20to%20learn%20and%20French%20at%20least%20seven%20Esperanto%20on%20the%20other%20hand%2C%20could%20be%20learned%20in%20a%20year&f=false

Aussagen von Sprachwissenschaftlern
Gesammelt in: Wunsch-Rolshoven, Zum Bild des Esperanto aus der Sicht einiger Sprachwissenschaftler
http://www.interlinguistik-gil.de/wb/media/beihefte/JGI2018/JGI2018-Wunsch.pdf

Linguistic disenfranchisement, linguistic distance
Siehe etwa
Marco Civico. Simulating language knowledge across the EU: language regimes, language learning and consequences for linguistic disenfranchisement, 2021
https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs42001-021-00137-5

Spezial Eurobarometer 386, Sprachen, 2012
Sprachenkenntnisse in Europa S. 24
https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/1049

Englisch-Kenntnisse in Brüssel
BRIO language barometer 4: Languages in Brussels
https://www.briobrussel.be/node/14776

Ansprechpartner: 
Louis von Wunsch-Rolshoven
Kontakt Rufnummer: 
(0 800) 3 36 36 36 - 111